Kirche des Lichts von Tadao Ando | Foto: © Depositphotos.com/ siraamawong
„Ich wollte tief leben, alles Mark des Lebens aussaugen, so hart und spartanisch leben, dass alles, was nicht Leben war, in die Flucht geschlagen wurde. Ich wollte einen breiten Schwaden dicht am Boden mähen, das Leben in die Enge treiben und auf seine einfachste Formel reduzieren.“ – Henry David Thoreau
In seinem Buch „Walden. Oder das Leben in den Wäldern“ (1854) beschreibt Henry David Thoreau sein Leben in einer Blockhütte am See Walden Pond (Massachusetts, USA). Über zwei Jahre versuchte er dort, dem Idealbild des Einfachen Lebens (Simple Living) näher zu kommen. Der bewusste und gezielte Konsum gehörte für ihn ebenso zu seinem minimalistischen Leben wie eine auf das Wesentliche reduzierte Behausung. Thoreau zählte zu den Vertretern des Transzendentalismus, einer philosophisch-literarischen Bewegung, die dem Materialismus kritisch gegenüberstand. Das ist eine von vielen Gruppen, die Minimalismus als erstrebenswertes Ziel ansehen.
Minimalismus ist aber nicht nur die Bezeichnung für einen bewusst einfachen Lebensstil, der Begriff wird auch für eine Stilrichtung in Kunst und Kultur verwendet. Die Definition von Minimalismus in der Architektur ist jedoch umstritten und der theoretische Diskurs darüber komplex.
Minimalismus in der Architekturtheorie
Die Minimal-Kultur in den Bildenden und Darstellenden Künsten und der Musik wurde in den 1960er Jahren in den USA geprägt. So entwickelte sich beispielsweise in den Bildenden Künsten die Minimal Art. Sie ist eine Gegenbewegung zum Abstrakten Expressionismus und zur Pop Art und ist gekennzeichnet durch elementare Formen, serielle Anordnungen, industrielle Materialien und Fertigungsweisen.
Minimalistische Architektur entstand erst in den 1980er Jahren und fand den Höhepunkt ihrer Verbreitung in den 1990er Jahren. Jene Phase in der Architektur wird daher häufig auch als „Neo-Minimalismus“ oder „Post-Minimalismus“ bezeichnet, um sie im theoretischen Diskurs in Verbindung zur Minimal-Kultur der 1960er Jahre zu setzen und gleichzeitig davon abzugrenzen.
Es gibt jedoch auch theoretische Ansätze, die „Minimal Architektur“ als Pendant zur Minimal Art in der Architektur zu sehen oder aber scharf zwischen minimaler Architektur und minimalistischer Architektur zu differenzieren. Nach der Theorie von Wilfried Wang, ehemaliger Direktor des Deutschen Architekturmuseums, liegen die Ursprünge der minimalen Architektur in der skandinavischen Architektur der 1920er bis 1970er Jahre. Seiner These zufolge imitiert die minimalistische Architektur der 1980er die Ästhetik der minimalen Architektur aus Skandinavien.
Unabhängig von diesem theoretischen und historischen Diskurs beschreibt Minimalismus aber auch formal-ästhetische Vorstellungen, die in unterschiedlichen Architekturstilen und geographischen Regionen gefunden werden können. So soll Minimalismus in der Architektur im Folgenden auch verstanden werden.
Merkmale von Minimalismus in der Architektur
Minimalismus in der Architektur ist gekennzeichnet durch Reduktion auf klare, geometrische Grundformen, rechte Winkel und parallele Linienführungen, die Ausdehnung von Flächen und den Verzicht auf überflüssige Dekorationen.
In der Farbwahl und Auswahl der Materialien und Oberflächen gibt es unterschiedliche Gestaltungsansätze. Entweder werden billige und einfache Materialien verwendet oder aber die Materialauswahl erfolgt unter Berücksichtigung des zu bebauenden Ortes und der exklusiven Wirkung des Materials.
Minimalismus findet man vor allem bei drei Bauaufgaben:
- bei privaten und luxuriösen Villen und Wohnhäusern,
- in Verkaufsräumen für Luxusartikel,
- in Museen und anderen Räumen für die Kunst.
Damit stehen zwei weitere theoretische Ansätze des Minimalismus im Kontrast. Zum einen der asketische Verzicht auf Konsum und somit auch an umbauten Raum, wie ihn Henry David Thoreau in seiner Hütte am Walden Pond lebte und wie er auch noch heute in zahlreichen Hütten gebaut wird. Zum anderen die raum-verschwenderische Luxus-Leere in den oben genannten Bauaufgaben.
Eine besondere Stellung nimmt der Minimalismus in der japanischen Architektur ein, wo Leere im Raum (Zwischenraum) ein wichtiger Bestandteil der Ästhetik ist. Die Innenräume von japanischen Wohnhäusern sind häufig schlichte und offene Räume mit Schiebetüren und Paravents für temporäre Arrangements im Raum.
Architekten und Bauwerke des Minimalismus
Das Kirchner Museum in Davos ist ein Entwurf der Zürcher Architekten Annette Gigon und Mike Guyer. Glas, Beton, Stahl und Holz reduzieren die vier Kuben auf das Wesentliche und bilden ein Äquivalent zur expressionistischen Kunst von Ernst Ludwig Kirchner. Tipp: In diesem Video wird das innovative Lichtkonzept des Kirchner Museums von den Architekten erläutert: https://youtu.be/aVSEXjTxHoc
Das Museumsgebäude der Sammlung Goetz in München wurde vom Architekturbüro Herzog und de Meuron entworfen. Der solitäre Bau fügt sich zeitlos und elegant in einen Bestand aus Birken und Nadelbäumen ein. Hohe Fensterbänder aus mattiertem Glas sorgen für blendfreies Tageslicht in der Ausstellung. In den kargen Innenräumen dominieren ungestrichene Putzoberflächen, die Platz für ausgewählte zeitgenössische Kunst bieten.
Der britische Architekt John Pawson hat zahlreiche elegante und minimalistische Gebäude und Innenausbauten realisiert. Beispielhaft seien der Cannelle Cake Shop (in Zusammenarbeit mit Claudio Silvestrin), die Neuendorf Villa auf Mallorca und die Villa Bartos in St. Tropez genannt. Auch für die Sanierung und Neugestaltung der Moritzkirche in Augsburg zeichnet er sich verantwortlich. Für die katholische Kirche entwickelte er „ein Konzept der Klarheit und des Lichtes für diesen Sakralraum“. In einer Liste von Architekten des Minimalismus darf der Pritzker-Preisträger Tadao Ando nicht fehlen. Der japanische Architekt bevorzugt Sichtbeton in der Größe von japanischen Tatami-Matten. Sein bekanntestes Projekt ist das Haus Azuma (oder Row House) in Osaka.
Mit einem traumhaften Blick in die Landschaft topt das 150M Weekend House einen Hügel in Khao Yai (Thailand). Das längste Haus der Welt stammt vom Architekturbüro Shinichi Ogawa & Associates (Japan). Mit 11 Meter Breite und 150 Meter Länge ist es das wohl längste Wohnhaus der Welt. Das Hauptgebäude besteht aus einem weißen Kubus und zwei weißen, länglichen Quadern, in denen sich aneinandergereiht die Wohnräume der Familie befinden.
Weiterführende Literatur
- „Cabins“ von Philip Jodidio. 2014 erschienen im TASCHEN Verlag. ISBN: 978-3-8365-5026-0
- „Japan und der Westen: Die erfüllte Leere und der moderne Minimalismus“. Katalog zur Ausstellung vom Kunstmuseum Wolfsburg (Hrsg.). 2007 erschienen im DuMont Buchverlag. ISBN: 978-3-8321-9045-3
- „John Pawson. Plain Space“ von Alison Morris. 2010 erschienen im Phaidon Verlag. ISBN: 978-0-7148-5748-0
- „Minimal architecture“ von Ilka und Andreas Ruby. 2003 erschienen bei Prestel. ISBN: 3-7913-2859-X
- „Minimalistische Architektur“ von Franco Bertoni. 2002 erschienen im Birkhäuser Verlag. ISBN: 978-3-7643-6651-3
- „Skandinavische Architektur: Von der Einfachheit des Bauens“ von Jon Steinfeld und Thomas Steinfeld. 2008 erschienen bei der Deutschen Verlagsanstalt. ISBN: 978-3-4210-3643-8
- „Tadao Ando: Nähe des Fernen“ von Werner Blaser. 2005 erschienen im niggli Verlag. ISBN: 3-7212-0555-3
- „Tadao Ando. Von der Leere zur Unendlichkeit“ (DVD), Regisseur: Mathias Frick. AISN: 3863355393
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Zur Autorin: Anett Ring ist Freie Fachjournalistin, M.A. Architektur und wissenschaftliche Autorin. Sie erstellt Websiten für Architekten und lässt Architektur sprechen. www.anettring.de
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