Wer an Industriearchitektur denkt, dem fällt vermutlich zunächst das Ruhrgebiet ein – nicht aber Hamburg. Damit tut man der altehrwürdigen Hansestadt jedoch unrecht. Zwar war die Stadt an Alster und Elbe nie eine Industriestadt im eigentlichen Sinne – nichtsdestotrotz besaß sie Industrie. In der Zeitung ZEIT vom 14. Januar 1954 stand sogar geschrieben: „Ein Vergleich der industriellen Produktion der Hansestadt Hamburg mit derjenigen anderer deutscher Industriestädte zeigt, daß die Hamburger Industrie mit beachtlichem Vorsprung an erster Stelle steht.“
Brauereien, Tuchfertigung, Mühlen und Metall
Bereits seit dem Mittelalter waren in Hamburg Brauereien aktiv, die jedoch eher Vorläufer der großen Traditionsbrauereien waren, die nach 1850 entstanden. Eine weitere frühe Industrie Hamburgs waren Zuckersiedereien, die Rohrzucker verarbeiteten. Von ihnen und ihrer Architektur ist jedoch nichts mehr geblieben.
Wassermühlen, die es bereits um 1235 an der heutigen Binnen- und Außenalster gab, waren Vorläufer der Großmühlen, die den baulichen Eindruck Altonas, Wilhelmsburgs und Harburgs prägten. Das Tuchgewerbe war aufgrund des Überseehandels eine zweifelhafte Industriesparte, die neben dem Baumwollhandel am Sklavenhandel beteiligt war. Die Tuchindustrie prägte mit den zugehörigen Bauten vornehmlich den Stadtteil Wandsbek.
Ein wesentlich nachhaltigerer Industriezweig, der in Hamburg Fuß fasste, war die Metallerzeugung. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden Hochöfen und Eisengießereien. Eine von ihnen war der heutige Großkonzern Aurubis AG, ehemals Norddeutsche Affinerie AG. Ihre Fertigungsstätte liegt auf der Veddel und erinnert auf unästhetische Art an eine Chemiefabrik.
Zeugnisse vergangener Industrie in Hamburg
In Bahrenfeld, Altona und der Speicherstadt finden sich zahlreiche weitere architektonische Relikte Hamburger Industriestätten. Heute sind sie allerdings umgenutzt, überwiegend durch Büros und Gastronomiebetriebe, die das besondere Ambiente schätzen. Das Industriedenkmal Stilwerk in der Nähe des Altonaer Fischmarktes ist solch ein Beispiel. In dem sechs- bis siebenstöckigen Klinkerbau wurde bis 1992 Malzbier gebraut. Die Mälzerei war 1907, bei ihrer Fertigstellung, eine der ersten Stahlbetonskelett-Konstruktionen Deutschlands. Die Fassade ist mit Blendbögen und Schmuckbändern verziert – so ist sie ein Zeugnis vom wirtschaftlichen Wohlstand der damaligen Zeit. Heute befindet sich in der ansprechend umgenutzten ehemaligen Mälzerei mit Stilwerk ein Kaufhaus für hochwertige Innenausstattung, Design- und Lifestyleartikel.
Stilwerk mit Brücke. Foto: Gina Doormann
Gegenüber dem heutigen Stilwerk, direkt an der Wasserfront der Elbe, steht das wuchtige Gebäude der ehemaligen Getreidemühle von Heinrich Wilhelm Lange & Co. Im Jahre 2001 bauten Jan Störmer Architekten den sechsstöckigen Bau um: Er behielt seine Klinkerfassade und in der Aufstockung aus Glas entstanden hochwertige Wohnungen.
Ehemalige Getreidemühle. Foto: Gina Doormann
Das preisgekrönte U3-Viadukt
Wer die Große Elbstraße mit Stilwerk und ehemaliger Getreidemühle hinter sich lässt, bewegt sich auf ein weiteres – im weitesten Sinne – Stück Hamburger Industriearchitektur zu. Da der der Ingenieurbau zweifelsohne ein Inbegriff des Industriebaus ist, gehört das Viadukt der Hochbahn-Linie U3, vor rund 100 Jahren gebaut, dazu. Auf dem letzten Stück vor der Haltestelle Baumwall folgt die Konstruktion eindrucksvoll der Momentenlinie.
Altes Viadukt. Foto: Gina Doormann
Damit endet der Weg des alten Schienennetzes. In 2010 wurde die alte Binnenhafenbrücke der U3 ausgetauscht. In diesem Zuge wurde die gesamte Brückenkonstruktion inklusive Stahlüberbauten, Stützpfeilern und Tiefgründungen komplett erneuert.
Neues Viadukt. Foto: Gina Doormann
Der Aufwand hat sich gelohnt: Die neue Konstruktion wurde 2012 im Rahmen der Verleihung des Architekturpreises des Deutschen Stahlbaus, ausgelobt vom bauforumstahl, ausgezeichnet. Sie sei „eine vorbildliche, gewagte Konstruktion“, hieß es dort.
Industriedenkmal Kesselhaus in der HafenCity
Von der Haltestelle Baumwall ist der Fußweg zu einem weiteren Industriedenkmal Hamburgs nicht weit: In der Hafencity liegt das ehemalige Kesselhaus. Der Rotklinkerbau wurde 1888 in Betrieb genommen und war somit das erste Hamburger Dampfkraftwerk. In 2001 wurde die denkmalgerechte Rekonstruktion, geplant durch das Büro gmp, fertiggestellt. Die 20 Meter hohen Schornsteinkonstruktionen stellen den historischen Bezug her. Heute befindet sich in dem Kesselhaus das HafenCity InfoCenter, das stadtplanerische sowie architektonische Modelle des neuen Stadtteils frei zugänglich ausstellt.
Kesselhaus Hafencity. Foto: Gina Doormann
Weitere umgenutzte Industriearchitektur: die Fabrik
Im Stadtteil Ottensen erinnern weitere Gebäude an Hamburgs industrielle Zeiten, die hier ca. 1840 begannen und etwa 1980 endeten. Die plakativste Erinnerung daran ist die „Fabrik“ in der Barnerstraße. Hier hatte bis Anfang der 70er-Jahre eine Firma für Holzbearbeitungsmaschinen ihren Sitz. Danach wurde sie, typisch für erste Umnutzungen nach industriellem Gebrauch, in ein Kulturzentrum umgewandelt. Eigenwillig, aber interessant: Ende der 70er-Jahre wurde der Bau durch den auffälligen Kran, der ursprünglich von der benachbarten Firma Menck & Hambrock stammte, ergänzt.
Fabrik. Foto: Gina Doormann
Städtebauliche Neunutzung: der Bahrenpark
Mit dem Bahrenpark zeigt Hamburg die gelungene Umnutzung eines Gaswerks von 1895. Der heutige Gewerbehof bietet Gastronomie, das Hotel „Gastwerk“ sowie Einkaufsmöglichkeiten für den täglichen Bedarf.
Bahrenpark. Foto: Gina Doormann
Die Farben sowie Formensprachen der neuen Gebäude auf dem seit 1996 unter Denkmalschutz stehenden Fabrikareal orientieren sich an der Architektur der hanseatischen Gründerzeit.
Bahrenpark. Foto: Gina Doormann
Lebendige Industrie
Um auf „qualmende Schlote“ in Hamburg zu treffen, sind ein Abstecher in den Osten der Stadt sowie der viel zitierte „Sprung über die Elbe“ notwendig. In Billbrook findet sich eines der 10 ältesten Industriedenkmäler der Hansestadt: der Uhrturm der Firma Commentz & Co. Der überwiegend rot geklinkerte Turm mit seiner − leider nicht mehr funktionierenden − Uhr ist ein Wahrzeichen des Stadtteils Billbrook. Die 1922 gegründete Firma war zunächst ein Terpentin-Destillationsbetrieb. Im Laufe der Jahre blieb die Firma zwar in ihrem charakteristischen Firmensitz, entwickelte sich aber weiter – heute ist sie ein moderner Abfüll-, Lager und Dienstleistungsbetrieb rund um Terpentinderivate.
Uhrenturm Commentz. Foto: Gina Doormann
Gestern und heute: Eine Harburger Fabrik zeigt beides
Die F. Thörls Vereinigte Harburger Ölfabriken AG, heute Noblée & Thörl, präsentiert in Hamburg-Harburg sowohl umgenutzte Werksgebäude als auch solche, in denen nach wie vor pflanzliche Öle und Fette produziert werden. Während sich in dem hell verputzten ehemaligen Verwaltungsgebäude von Thörl heute Büroräume befinden, beherbergt der ehemalige Palmspeicher nun ein Rollercoaster-Restaurant. Die hohe Decke ermöglicht die Konstruktion, auf der die Teller an die Tische rollen.
Thörl. Heutiger Palmspeicher. Foto: Gina Doormann
Thörl. Ehem. Verwaltungsgebäude. Foto: Gina Doormann
Nach wie vor produziert wird in dem Gebäude an der Seehafenstraße. Zwar ist der alte Klinkerbau mit seinem Firmenschriftzug noch erhalten, wurde jedoch durch rein funktionale Silos mit dem dazugehörigen Mauerwerk ergänzt. Hier ist deutlich der Unterschied in der Haltung zur Industrie zu sehen, die in der jeweils zeitgemäßen Architektur ihren Ausdruck findet.
Werk Thörl heute. Foto: Gina Doormann
Das Silo Hamburg-Harburg
Ein eindrucksvolles Gebäude – ebenfalls in Harburg – ist zwar umgenutzt, jedoch auf so eindrucksvolle Art und Weise, dass es an dieser Stelle vorgestellt werden muss. Ursprünglich wurde der 43 Meter hohe Getreidespeicher der Firma Andreas Hansen GmbH 1936 mit 16 Silozellen auf einem 7,5 Meter hohen Stahlbeton-Sockel errichtet. Von 2000 bis 2005 wurde er durch die Architekten Limbrock Tubbesing umgebaut. Sie erhielten die Form und sechs der Silos und schufen ein Bürohaus mit 14 Geschossen. Das Silo überzeugte zudem auf der Architekturbiennale 2006 als gelungenes Beispiel einer Umnutzung.
Silo Hamburg-Harburg. Foto: Gina Doormann
Wer weitergehendes Interesse an Hamburgs Industriebauten hat, dem sei folgende Veranstaltung empfohlen: Dritte „Tage der Industriekultur am Wasser“ in der Metropolregion Hamburg.
von Gina Doormann, Architekturkommunikation und freie Journalistin
Guten Tag,
ein interessanter Artikel, der viele Gebäude aufzählt, die ich zwar kenne, aber über die ich nichts wusste.
Leider gibt es gar keine Hinweise auf die planenden Architekten – das fällt mir auch bei anderen Artikeln über Industrie-architektur immer wieder auf. Liegt das daran, daß die Architekten stets anonym blieben ? Oder waren das Leute der jeweiligen Unternehmen, die die Gebäude geplant haben und nicht weiter erwähnt wurden ?