Architektur, die Maßstäbe setzt
Seitdem sich Japan 1868 geöffnet hat, befindet sich die japanische Architektur im steten Wandel. Wurde anfangs nach europäischem Vorbild gebaut, steht heute die Architektur in Japan abseits üblicher Konzepte und scheint dem weltweiten Trend schon meilenweit voraus zu sein. Die moderne Architektur hat aus der Vergangenheit gelernt. So hielten weder die europäischen Backsteinbauten noch die traditionellen Holzhäuser den Erdbeben stand. Die hohe Bevölkerungsdichte und das geringe Platzangebot fordern zudem innovative Konzepte, um großzügigen Wohnraum zu schaffen. Nach 1950 setzte sich eine brutalistische Architekturdurch. Zahlreiche Städte mussten nach dem Krieg wieder aufgebaut werden. Zu Beginn wurde dafür das bis dahin verwendete Holz mit dunklem Stahlbeton imitiert. Während der „Postmoderne“ wurde dann mit der Errichtung metaphorischer Ruinen die Zukunft vorweggenommen.
Um die Jahrtausendwende trat eine neue Architektengeneration in den Vordergrund, die sich von allem befreite, was bis dahin prägend für die japanische Architektur war: Übernahme westlicher Architektur, Selbstzweifel, Selbsterniedrigung, Gegensätze und Überheblichkeit. Selbstsicher und vollkommen eigenständig hat die Architektur in Japan einen eigenen Weg eingeschlagen. Den Anfang machte Tadao Ando unter anderem mit seinem vier Stockwerke hohen „4×4 House“ (2003) mit einer nur 16 Quadratmeter großen Grundfläche. Tadao Ando ist derzeit einer der wichtigsten japanischen Architekten, in dessen minimalistischen, eleganten Entwürfen Tradition und Moderne eine Einheit bilden, was auch seine Bauten auf der Museumsinsel Naoshima verdeutlichen und für die moderne Architektur in Japan steht.
Kennzeichnend für die herausragenden Objekte mutiger Bauherren sind der streng geometrisch geformte Baukörper, die weiße Farbe, deren Ursprung gern im Bauhaus gesucht wird, und schlichte, leere, aufgeräumte Räume, die ganz nach japanischer Tradition keinem bestimmten Zweck zugedacht sind. Es sind gebaute Experimente, Gedankenkonstrukte, die es vom Papier in die Realität geschafft haben und sichtbar machen, was möglich ist.
Großes im Kleinen
Das japanische Steuerrecht bringt es mit sich, dass geerbte Grundstücke in teilweise ungünstig geschnittene kleine Parzellen geteilt werden. So sind Grundstücke nicht selten gerade einmal 50 oder weniger Quadratmeter groß, schmal und lang oder verwinkelt. Diese kniffligen Grundstücke verlangen das ganze Können des Architekten ab. Hinzu kommt ein meist begrenztes Budget für das Wohnhaus, das mit durchschnittlich 180.000 Euro sogar deutlich unter dem Grundstückswert liegt. Ungeachtet davon muss der Architekt die strengen Bauvorschriften, wie Erdbebensicherheit oder Abstände zu Nachbargebäuden, beachten. Dass diese scheinbar unmögliche Ausgangssituation doch zu einem wohnlichen Ganzen zusammengefügt werden kann, zeigen die Ausnahmewohnhäuser in den japanischen Metropolen. Denn hier sind Originalität und Qualität gefragt, damit die Herausforderungen mit eigenwilligen Lösungen gemeistert und die Fragen nach dem Minimum an Wohnanspruch und nach unverzichtbaren Funktionen beantwortet werden können. Minihäuser auf Minigrundstücken sind die Spezialdisziplin der Architektur in Japan.
Privatsphäre im engen Stadtgefüge
Dabei entstehen unkonventionelle Wohnformen auf mehreren Ebenen, die sich sowohl für Familien als auch für Wohngemeinschaften eignen. Diese neuartige Wohnraumaufteilung beeinflusst allerdings auch das tägliche Leben. Typisch japanisch sind zudem Wandschränke und fest installierte Armaturen, die eine Umnutzung nur mit größeren Umbauarbeiten ermöglichen. Trotzdem ist es erstaunlich, wie luftig und geräumig die Miniwohnhäuser dank ihrer verschiedenen Höhen und Ebenen sind. Makoto Tanijiri hat das bei seinen Wohnhäusern in Kamiosuga und Koamicho, wo vertiefte und erhöhte Flächen auf einer Etage unterschiedliche Wohnbereiche schaffen, eindrucksvoll gezeigt. Der Kubus des Wohnhauses in Koamicho dient als Schutzwall zur Außenwelt und öffnet sich ausschließlich zum privaten Innenhof. Auch das ist kennzeichnend für die japanische Architektur. Die kostbare Privatsphäre wird auf ein Maximum ausgedehnt, ohne dabei Nachbargrundstücke zu stören oder selbst gestört zu werden, wie bei Katsuhiro Miyamotos Wohnhaus „Between“ (2009), wo eine Terrasse in der Gebäudemitte den Wohnraum nach außen erweitert oder Takuro Yamamoto Architects „Little House with a Big Terrace“ (2015). Bei diesem 75 Quadratmeter großen Haus auf 42 Quadratmeter Grund vervollständigt die umschlossene Terrasse den kubushaften Charakter und schützt vor fremden Einblicken. Als Lösung für das Platzproblem wurde ein 1,40 Meter hohes Zwischengeschoss als Lagerraum eingefügt. Eine andere Lösung für den Schutz der Privatsphäre hatte Takeshi Hosaka mit seinem „Daylight House“. Die Reduktion auf das Wesentliche wurde so weit getrieben, dass auf Fenster verzichtet wurde. Stattdessen lässt die Lichtdecke das Tageslicht ungehindert in das 85 Quadratmeter große Wohnhaus hinein.
Innen- und Außenbereich werden eins
Der Gedanke, dass Innen und Außen miteinander verschmelzen, prägt die Tendenz großer Glasfronten und fließender Übergange mit großzügigen Terrassen und architektonischer Gartengestaltung. Denn der Garten nimmt in der japanischen Kultur einen hohen Stellenwert ein, wie beim „Moriyama House“ (2005), wo sich das intime Badezimmer als eigenständiger Kubus mitten im Garten befindet. Bei diesem Entwurf von Ryue Nishizawa ist jeder Raum als separater, weißer Kubus auf dem 240 Quadratmeter großen Grundstück verteilt. Das „Moriyama House“ gilt sogar als der neue Wohnhaustyp, da es wie eine kleine Stadt organisiert und für Wohngemeinschaften ideal ist. Die Innen- und Außenthematik hat Sou Fujimoto mit seinem „House N“ (2008) ganz anders gelöst. So besteht hier der Baukörper aus drei ineinander verschachtelten „Hüllen“, die die privaten Innenräume nach außen hin abschirmen.
Horizontal und vertikal
Das „Warehouse“ von Shinichi Ogawa & Associates ist ein gelungenes Beispiel für ein lang gestrecktes Grundstück, bei dem mit unterschiedlich erhöhten und vertieften Ebenen die einzelnen Wohnbereiche hintereinander angeordnet sind. Durch den Verzicht auf Zwischenwände und die Verwendung von Schiebetüren, Einbauregalen und frei stehenden Schränken wurde ein Maximum an nutzbarem Wohnraum gewonnen. Yoshihiro Yamamoto hat mit seinem „Kakko House“ (2014) auf nur 35 Quadratmeter Grundfläche ein Wohnhaus mit rund 115 Quadratmeter Wohnfläche auf sechs Ebenen geschaffen. Zwar ist die Raumaufteilung etwas ungewöhnlich, aber die großzügig bemessenen Bereiche, ein doppelgeschossiger Luftraum im Wohnzimmer und eine Dachterrasse bieten enorm viel Luxus auf kleinstem Raum.
Das Plastikhaus
Kunststoff, der leicht, dünn und verformbar ist, eignet sich für extrem kleine Bauweisen wesentlich besser als Beton, wovon das „Plastic House“ von Kengo Kuma zeugt. Das 2002 fertiggestellte Gebäude aus glasfaserverstärktem Kunststoff lässt tagsüber sehr viel Licht hinein.
Ohne Grenzen
Die japanischen Architekten können aber auch groß denken und bauen. Der fünf Meter hohe lichtdurchflutete Pavillon des „Kanagawa Institute of Technology“ von Junya Ishigami wirkt unheimlich leicht und luftig. Exakt berechnete, minimalistisch ausgeführte Stützen tragen die verglaste Konstruktion, bei der es keine Wände zu geben scheint. Dieses Beispiel perfektioniert den Wunsch, Innen- und Außenbereich zu vereinen. Es zeigt deutlich die asketische Reduktion und angestrebte Reinheit der Räume, die so charakteristisch für die moderne japanische Architektur sind. Als großzügig, grenzenlos und geordnet lässt sich das Konzept für den „Yutaka Kindergarten“ (2014) von SUGAWARADAISUKE beschreiben. Der vollflächig verglaste Flachbau ist in drei große Nutzungsbereiche mit angeschlossenem Garten und mehrere Zonen mit uneingeschränkter Sicht eingeteilt. Das Architekturbüro Nikken Sekkei schuf mit dem Entwurf für das Hoki-Museum eine minimalistische, kreative Stahlkonstruktion. Bemerkenswert sind die weitläufigen Innenräume, die von allen Bereichen aus einen ungehinderten Blick auf die Gemälde gewährleisten. Die Glasfassade und ein innovatives Beleuchtungssystem runden das gelungene Konzept für eine Kunstaustellung ab.
Kleines im Großen
Die japanische Architektur macht sich auch Gedanken über das Wohnen im Alter. Hierfür steht das Seniorenheim „Kaze No Machi Mijabira“ (2014) in Tojo. Bis auf das zweigeschossige Verwaltungsgebäude ist die gesamte 4.600 Quadratmeter große, aus Sperrholz, Blech und PVC gefertigte Anlage ebenerdig. Neuartig ist das Clusterkonzept, das für jeden Bewohner ein neun Quadratmeter großes Schlafzimmer und einen weiteren privaten Raum vorsieht. Bis zu vier Wohneinheiten umschließen einen Gemeinschaftsraum, der wiederum einer anderen zentraleren Versorgungseinheit zugeordnet ist und den Bewohnern bei der Wahl ihres Aufenthaltsortes genauso viel Flexibilität bietet wie die Konstruktion mit ihren verschiebbaren Trennwänden.
Funktional durchdacht
Das Fotoatelier-Projekt (2014) von FT Architects sieht aus der Ferne nach einem einfachen Haus mit Satteldach in einer Holz-Kunststoffwellplatten-Bauweise aus. Im Inneren offenbart sich aber eine einzigartige 4,50 mal 7,50 Meter große Halle. Um eine perfekte Lichtqualität zu erreichen, wurde ein mehrflächiges, asymmetrisches Pfettendach mit einer Dachneigung von 45 Grad und zahlreichen Oberlichtern gewählt. Lediglich an einer Seite öffnet sich das Haus zum Garten.
Architektur mit Verantwortung
Shigeru Ban, der vor allem durch seine Werke im Ausland bekannt ist, verfolgt neben seinen Entwürfen für Wohn- und Geschäftshäuser, wie das 56 Meter hohe „Nicolas G. Hayek Center“, auch eine humanistische und ökologische Architektur. Durch die Nutzung von Recyclingmaterial und biologischen Baustoffen, wie Sperrholz, Textilien oder Pappe, und eine äußerst effiziente Raumnutzung hat er unter anderem mit seinen temporären Unterkünften für die Tsunamiopfer 2011 von sich reden gemacht. Hierbei zeigt er, dass leichte, preiswerte Notunterkünfte auch einen ästhetischen Wert für das betrachtende Auge und den Bewohner haben können.
Hinterlasse einen Kommentar